Für einen Philosophen hat Mark R. Reiff einen ungewöhnlichen Lebenslauf. Der 62-jährige Amerikaner war 15 Jahre lang als Rechtsanwalt im Wirtschafts- und Finanzrecht tätig und hatte eine eigene Kanzlei in Kalifornien. Im Jahr 1999 schmiss er hin und ging nach Cambridge, um praktische Philosophie und Rechtsphilosophie zu studieren. In seinen bislang vier Büchern beschäftigte sich Reiff seither mit Themen wie Arbeitslosigkeit, Ausbeutung sowie der Vereinbarkeit von Kapitalismus und ökonomischer Gerechtigkeit.

ZEIT ONLINE: US-Präsident Donald Trump beschwört das Schreckgespenst eines drohenden Sozialismus in den USA herauf, seit linke Politikerinnen und Politiker wie Alexandria Ocasio-Cortez oder Bernie Sanders sich selbstbewusst als "demokratische Sozialisten" bezeichnen. Ist in den USA gerade ein Systemkampf im Gange?

Mark R. Reiff: Es besteht keine realistische Gefahr, dass ein Staatssozialismus sowjetischer Prägung den liberalen Kapitalismus in den USA ablöst. Zumal die meisten Demokraten, die sich selbst als demokratische Sozialisten bezeichnen, gar keine wirklich sozialistischen Inhalte vertreten, sondern sozialdemokratische im europäischen Sinne. Sie liefern Donald Trump aber eine wertvolle rhetorische Waffe für den bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf. Trump kombiniert die Furcht vieler Amerikaner vor dem Sozialismus mit rassistischen Ausfällen.

ZEIT ONLINE: Insbesondere junge Amerikanerinnen und Amerikaner wünschen sich in Umfragen zunehmend ein sozialeres Land.

Mark E. Reiff lehrt an der University of California in Davis, und war zuletzt Visiting Professor an der Frankfurt School of Finance & Management in Frankfurt/Main. Im kommenden Jahr erscheint Reiffs neues Buch "In the Name of Liberty: The Argument for Universal Unionization" (Cambridge University Press). © Privat

Reiff: Doch die Demokraten erwecken gegenüber der breiten Öffentlichkeit den Eindruck, der liberale Kapitalismus, für den sie einstehen, besitze nicht die Mittel, etwa eine zuverlässige Gesundheitsvorsorge zu gewährleisten, Armut und Obdachlosigkeit zu bekämpfen und eine humane Asylpolitik durchzusetzen. Sie tun so, als könnten entsprechende Maßnahmen nur ergriffen werden, wenn wir uns dem Sozialismus annäherten. Dabei kann der liberale Kapitalismus all das leisten. So spielen sie den illiberal gesinnten Rechten um Trump in die Hände, die immerzu behaupten, diese Maßnahmen widersprächen dem Kapitalismus. Das Gerede vom Sozialismus in den USA ist eine Scheindebatte, die vom tatsächlich stattfindenden Konflikt ablenkt.

ZEIT ONLINE: Welcher ist das aus Ihrer Sicht?

Reiff: Derjenige zwischen dem Liberalismus, in einem aufklärerischen Sinne, und dem Illiberalismus. Kapitalismus und Sozialismus sind lediglich ökonomische Systeme, die liberaler oder illiberaler ausgestaltet sein können. Ökonomische Systeme scheren sich nicht um Menschen, sie managen Ressourcen, Preise, Produktion und Arbeit. Wie die Ungerechtigkeiten abgefedert werden, die ökonomische Systeme mit sich bringen, ist eine politische Frage. Es geht darum, ob wir den Kapitalismus weiter illiberal gestalten oder zu einem liberalen Kapitalismus zurückkehren.

ZEIT ONLINE: Was verstehen Sie unter Liberalität? In den USA wird dieser Begriff ja ganz anders verwendet als in Europa.

Reiff: Liberale bevorzugen Freiheit, Illiberale Autorität. Liberale misstrauen der Konzentration von Macht in den Händen weniger, Illiberale nicht. Liberale glauben, niemand stehe über dem Gesetz. Illiberale stellen Sicherheit und Stabilität über alles, sogar über das Gesetz. Liberale sind der Meinung, alle Menschen hätten den gleichen moralischen Wert, Illiberale schreiben den Mitgliedern ihrer jeweiligen Gemeinschaft einen höheren Wert zu. Liberale finden, die Regierung sollte neutral sein gegenüber unterschiedlichen, vernünftigen Konzepten des guten Lebens. Illiberale glauben, es gebe nur eine Art, ein moralisches Leben zu führen – und die Regierung sollte dafür sorgen, dass jeder seines entsprechend ausrichtet.

ZEIT ONLINE: Und was verstehen Sie unter liberalen Kapitalismus?

Reiff: Der liberale Kapitalismus begrenzt die Privilegien der Reichen und Mächtigen und bändigt ihre Gier. Sozialdemokratisch geprägte Länder in Europa mit einem starken Wohlfahrtsstaat stellen eine mögliche Ausprägung des liberalen Kapitalismus dar. In seiner klarsten Form gab es ihn zwischen 1945 und 1970 in den USA und in Westdeutschland. Was in den USA heute noch davon übrig ist, versuchen Trump und seine Unterstützer gerade abzuwickeln.

ZEIT ONLINE: Die Nachkriegszeit in den USA war weit mehr von Rassismus und Sexismus geprägt, als das heute noch der Fall ist. Besonders liberal klingt das nicht. 

Reiff: Das ist nicht zu bestreiten. Was wir bis in die Siebziger erreicht hatten, war bestenfalls ein segmentierter Liberalismus, ein Liberalismus für weiße Männer. Ich glaube nicht, dass wir zu irgendeinem Zeitpunkt nahe dran waren, eine ideale liberale und kapitalistische Gesellschaft zu formen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Kapitalismus zumindest in die richtige Richtung, hin zu einer Gesellschaft, in der die liberalen Prinzipien für alle zu gelten begannen, nicht nur für weiße Männer. 

ZEIT ONLINE: Was ist in der Zwischenzeit in den USA geschehen?

Reiff: Die Zustimmung zu den liberalen Werten ist ab 1980 erodiert. Beginnend mit der Reagan-Administration haben US-Regierungen aufgehört, die Kartellgesetze durchzusetzen, sie haben die Finanzindustrie dereguliert und das öffentliche Bildungsangebot entkernt. Ich glaube, die Liberalen haben gar nicht gemerkt, dass sich auf politischer Ebene ein Neokonservatismus breitmachte und auf ökonomischer Ebene der Neoliberalismus. Das illiberale Gedankengut schlich sich in unsere Gesellschaften ein, getragen von Ökonomen, die uns erklärten, dass unsere politischen Probleme gar nicht politischer Natur seien, sondern ökonomischer. Als wäre die Steuerung einer Gesellschaft eine rein technische Frage. Laissez-faire-Ökonomen wie Milton Friedman forderten, die Politik solle sich aus der Wirtschaft heraushalten. Das war natürlich pure Ideologie.